Blog aus Ungarn - Teil 5
"Solange wir nicht zu laut werden"
bbiew07.10.2019 bbiew Artikel: Download PDF Drucken Teilen Feedback
Wir verlassen Serbien und machen uns auf nach Ungarn. Die EU begrüßt uns mit Stacheldraht und Grenzkontrollen, bei denen sich mancher aus der deutschen Gruppe an die Einreise in die ehemalige DDR erinnert fühlte. Wartezeiten und Gepäckkontrollen. Die Ungarn werden dabei von Grenzpolizisten aus Österreich unterstützt. Während die Serben uns schnell passieren lassen, fragt ein ungarischer Grenzbeamter, ob tatsächlich nur Deutsche im Bus sitzen und fügt hinzu: „No Albanien! No Kosovo! No Bosnien!“ Das macht uns schlagartig klar, was der Grenzübertritt für Menschen bedeutet, die den „falschen“ Pass zu haben. Statt der üblichen fünf Stunden kommen wir in anderthalb über die Grenze ins EU-Land.
Besuch im Transitlager unerwünscht
Die ungarischen Behörden hatten unseren Antrag auf einen Besuch des Transitlagers bei der Grenzstation Röszke abgelehnt. Begründung: keine. Dort warten Flüchtlinge hinter Stacheldraht zum Teil seit mehr als einem Jahr auf die Bearbeitung ihres Asylantrags. Stattdessen fahren wir in die nahegelegene Stadt Szeged und treffen dort einen Pastor der Reformierten Kirche Ungarns, der Zugang zum Transitlager hat. Zu der restriktiven Flüchtlingspolitik der Regierung Orban möchte er sich nicht äußern. Er macht deutlich, dass es ihm beim Besuch der Flüchtlinge hauptsächlich um Mission, um die Verkündigung des Evangeliums gehe. Wir fahren weiter nach Budapest.
Erst hin dann zurück und jetzt abschieben
„Rassismus und Intoleranz in Ungarn sind größer geworden“, sagt uns Lilla Soltis. Sie ist für die Flüchtlingshilfe der Lutherischen Kirche Ungarns tätig, die 200.000 Mitglieder hat. Sie schildert uns den Fall einer Familie aus dem Irak, die 2010 mit einem Kind nach Ungarn kam und weiter nach Schweden zog, weil dort bereits ein Bruder des Vaters lebte. In Schweden kam ein weiteres Kind zur Welt. Die Familie wurde aber nach Ungarn zurückgeschickt, das nach den Dublin-Verträgen für den Asylantrag zuständig ist, weil sie dort zuerst EU-Territorium betreten hatte. In Ungarn bekamen sie eine Aufenthaltsgenehmigung. „Sie sprechen ungarisch genauso gut wie ich“, betont Lilla. Doch jetzt forderten die ungarischen Behörden die Ausreise, weil die Lage im Irak angeblich sicher sei und der im achten Monat schwangeren Mutter teilten sie lapidar mit, sie könne das Kind auch im Irak zur Welt bringen. Das Helsinki-Komitee hat sich inzwischen eingeschaltet. Doch die Familie hat keine Papiere, die Kinder sind staatenlos, der Vater darf nicht arbeiten. Ein Beispiel von vielen.
"Wir machen keine Öffentlichkeitsarbeit"
Die Medien in Ungarn sind weitgehend unter Kontrolle der Regierung. Eine Zeitung veröffentlichte die Namen von Sozialarbeitern, die in der Flüchtlingshilfe tätig sind, und behauptete, sie seien Soros-Agenten. Den jüdischen US-Milliardär Georges Soros, der ungarischer Herkunft ist, hatte die Orban-Regierung zum „Staatsfeind“ erklärt und ihm vorgeworfen, er fördere die unkontrollierte Masseneinwanderung. Zivile Organisationen, die sich für Flüchtlinge einsetzen, haben es in Ungarn schwerer als kirchliche, meint der Koordinator der Flüchtlingshilfe der Lutherischen Kirche Meszaros Attila. „Wir arbeiten hier, aber wir machen unsere Arbeit nicht öffentlich. Wir haben keine Website, wir machen keine Öffentlichkeitsarbeit, wir sind nicht laut, aber wir können arbeiten.“ Sätze, bei denen beim Friedensnobelpreisträger Europäische Union alle Alarmglocken schlagen müssten.
Wo ist Europa?
Die mit 600.000 Mitgliedern größere Reformierte Kirche Ungarns ist ebenfalls in der Flüchtlingshilfe aktiv. „Es gibt kaum etwas Tragischeres in der Welt, als wenn wir gezwungen sind, unsere Heimat und unser Zuhause zu verlassen. Hilft die Kirche beim radikalen Neuanfang mit und bietet sie den Flüchtlingen ein neues Zuhause, so tritt sie in den Fußstapfen Jesu“, begründet die Reformierte Kirche ihr Engagement. Die große Zustimmung zur Orban-Regierung – auch von Kirchenmitgliedern - erklärt der Ökumene-Referent der Reformierten Kirche Pfarrer Balasz Odor mit „unbehandelten Ängsten“ in der Bevölkerung und mit mangelnder Information. „Wir müssen in der Kirche diese Ängste ansprechen. Wenn wir es nicht tun, machen es andere“, sagt der Pfarrer und meint damit die Orban-Regierung. Sie denke, dass sie nicht mit den Kirchen verhandeln müsse, weil sie behauptet, selbst zu wissen, was christlich sei. Pfarrer Balasz Odor fordert ein stärkeres Engagement der europäischen Kirchen und fragt: „Wo ist Europa?“ Er sagt: „Wir können in der Flüchtlingsarbeit machen, was wir wollen“, und fügt einen Satz hinzu, der genauso klingt wie die Worte des Flüchtlingskoordinators der Lutherischen Kirche: „Solange wir nicht zu laut werden.“
Diese Seite:Download PDFTeilenDrucken